Ich wollte jemand anderes sein, solange ich mich zurück erinnern kann. Aber ich hatte nie eine wirkliche Version davon, wer ich eigentlich genau sein möchte. Und leider fällt es unendlich schwer sich fortzubewegen, wenn man keine Ahnung hat, wohin man gehen möchte. Es bleibt bei einem planlosen Irren und letztendlich lief ich nur im Kreis.
Ich habe immer wieder versucht irgendwelche Ziele zu erreichen, aber ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, sobald ich sie erreicht habe und ließ sie wieder fallen. Ich merkte, dass mir der regelmäßige Sport und die Tätigkeit in dem Pseudo-Verein nichts brachte und hörte damit auf. Ich versuchte Freundschaften in meiner Schule zu schließen, aber das regelmäßige Treffen mit Menschen fand ich in erster Linie anstrengend und stressig. Ich konnte daraus wenig für mich gewinnen und habe selten jemanden mehr als einmal besucht.
Irgendwann fand ich mich in der paradoxen Situation mich zwar furchtbar einsam zu fühlen, aber kein Bedürfnis nach menschlichem Kontakt zu haben. Ich wollte Liebe, Nähe und Sex, aber dafür nicht mit Menschen interagieren müssen.
Zum Glück bekam ich irgendwann einen Internetanschluss. Meine erste sexuell-romantische Beziehung lernte ich in einem Chat kenne. Wir verstanden uns sehr gut und hatten ausdauernde Gespräche, erst per Chat und dann per Telefonat. Ich mochte sie gerne und wir behaupteten einander zu lieben.
Ich dachte unsere Beziehung ließe sich problemlos auch auf das Physische übertragen. Ob ich mit ihr per Telefon rede oder von Angesicht zu Angesicht spiele keine Rolle. Der erste und einzige Besuch bei ihr, hat mich da eines Besseren belehrt.
Für mich war die Separatheit, die Abgegrenztheit meines Seins von der äußeren Welt, insbesondere anderen Menschen, immer der Kern meiner Existenz. Was bedeutet es denn nicht mehr abgegrenzt von etwas anderem zu sein? Es heißt, dass man sich vermischt, sich auflöst; man hört auf zu existieren. Ich sah mich in meiner Abgegrenztheit immer bedroht. Nicht bewusst, aber unterbewusst und dort sehr intensiv.
Wenn ich mit ihr im Bett lag und wir uns küssten, hatte ich das Gefühl verschlungen zu werden. Die Nähe war furchtbar, beängstigend und abstoßend. Leider ist es äußerst abträglich für die allgemeine Stimmung, wenn einem beim Küssen so schlecht wird, dass man sich davon übergeben muss.
Wir hatten an diesem Abend aber nicht nur meine, sondern auch ihre Grenzen verletzt. Ersteres hatte nur die Konsequenz, dass mir schlecht wurde. Letzteres hatte die Konsequenz, dass sie aus einer kleinen Schatulle eine Ecke einer Rasierklinge nahm und sich später ein Tuch auf den Blut getränkten Bauch drückte.
Ich konnte nach dem Besuch nie mehr mit ihr reden und antwortete nicht mehr auf ihre Nachrichten. Ich habe die Gefühle, die Nähe, ihre Verletzlichkeit und alles nicht mehr ertragen.
Das ich schwerwiegende Nähe-Probleme hatte, habe ich leider erst viel zu spät begriffen. Die Unerträglichkeit die romantische oder freundschaftliche Nähe auf mich ausübte, hat sich viele Jahre lang äußerst destruktiv auf mein gesamtes Sozialleben ausgewirkt und immer zur Folge, dass ich nach höchstens einigen Monaten Kontakte abbrach.
Meine Abitur machte ich mit einer schlechten drei, da mir jedes Interesse an meiner schulischen Leistung völlig abging. Da Informatik keinen Numerus Clausus hatte, entschied ich mich einfach für dieses Studium. Die erste Studienzeit war schwer für mich.
Wir wurden zwangsintegriert in das Studentenleben, durch gemeinsames Essen, Kneipentouren und ähnliches Veranstaltungen für Erstsemestler. Da ich Menschengruppen weder ertrug noch ertragen lernen wollte, bin ich irgendwann auf einer der Kneipentouren einfach wortlos stehen geblieben und unbemerkt abgehauen. Ich war fortan schwer darauf bedacht, keiner meiner Kommilitonen dort zu begegnen, aus Angst für irgendwas eingeladen zu werden.
Schlimmer war für mich aber der Umstand, dass das Studium zu schwer für mich war. Zuviel Mathe, absolut keine Programmierkenntnisse, die Voraussetzungen für die Vorlesungen waren. Ich war alleine nicht in der Lage das Studium zu bewältigen und hatte keine Ahnung, wen ich um Hilfen bitten könnte; abgesehen davon, dass ich niemals jemanden um Hilfe gebeten hätte.
Ich brach’ das Studium nach einigen Wochen ab und studierte an einer FH. Im Kontrast zur Universität fand’ ich das Studium an der FH leicht. Viel, viel zu leicht. Ich hatte das Gefühl, dass meine Erfolge dort völlig unverdient waren, da nur geringe Vorbereitung ausreichend war, um gut mitzukommen.
Weil es so leicht war, entschied ich mich hin und wieder einfach nicht zum Unterricht zu kommen. Ob ich da war oder nicht, machte keinen Unterschied für mich. Die Tage an denen ich nicht das Haus verließ nahmen zu und wurden irgendwann zu zusammenhängenden Perioden. Aus ihnen wurden schließlich ganze Wochen.
Mit der Zeit fiel mir immer schwerer das Haus zu verlassen. Ich bekam plötzlich Angst Menschen zu begegnen. angesprochen zu werden, gefragt zu werden, wo ich bleibe, beobachtet zu werden, bewertet zu werden. Ich bekam Angst den Müll heraus zu bringen, weil ich mir vorstellte, was mein Müll alles über mich erzählen könnte.
Ich weiß nicht mehr, was ich in all der Zeit in einer kleinen Wohnung, mit abgeschotteten Fenstern und ohne Fernseher oder Bücher getan habe. Ich weiß nur noch, dass ich mich über Tage von Zwieback ernährte, weil ich nicht einkaufen gehen konnte.
Ich weiß auch gar nicht mehr, wie lange diese Phase ging. Aber ich war wohl irgendwie vier Semester lang dort eingeschrieben. Irgendwann brach’ ich in meiner Wohnung, ich nehme wegen Nahrungsmangel, zusammen. Mir wurde klar, dass ich hier sterben konnte und meine Leiche nur aufgrund olfaktorischer Belästigung einige Wochen später entdeckt werden würde.
Ich war danach denkbar motiviert mein Leben wieder unter Kontrolle zu bringen und ging zu einem Psychiater. Das brachte mir jedoch so gut wie nichts; ich wollte nicht über mich reden und die Antidepressiva brachten einen Scheiß.
Vor meiner agoraphobischen Phase hatte ich es tatsächlich geschafft noch zwei sexuelle Beziehungen zu führen. Die eine war nur kurzlebig mit einer tendenziell übergriffigen Person, die sich den Sex von mir mit Aufdringlichkeit nahm, wenn sie ihn wollte. Leider verliebte sie sich auch in mich. Als sie vor Liebeskummer weinend in meinen Armen lag, ekelte ich mich vor ihren Tränen, die ihren Weg durch mein Hemd auf meine Brust fanden.
Die zweite sexuelle Beziehung war eher eine sexuell-konnotierte Freundschaft. Mit ihr war der Sex zunächst unkompliziert und zu Beginn auch sehr angenehm. Ich fühlte mich aber zunehmend unwohl damit, mich nackt mit ihr zu befassen. Ich fühlte mich nicht wohl in meinen Körper und hatte Angst von ihr mit ihren zahlreichen Liebhaber verglichen zu werden. Wir hatten davon abgesehen eine fruchtbare Freundschaft, die mir irgendwann zu viel und daher abgebrochen wurde.
Wie auch immer: Ich brach das Studium an der FH ab und entschloss mich, noch einmal Informatik in einer anderen Stadt zu studieren. Mir war klar, dass ich dieses Studium erfolgreich zu Ende bringen muss, da ich keine vierte Chance auf ein Studium bekommen würde. Ich zog das Studium daher auf Gedeih und Verderb durch, auch wenn mir die Mathematik schwer viel und die meisten Vorlesungen für mich grausam langweilig waren.
Während dieser Zeit, tat ich nichts außer studieren und eine Schüssel Reis am Tag zu essen. Ich hatte über Wochen keinen Kontakt zu Menschen und lag mich Abends in mein Bett, um wieder und wieder “Ruf der Wildnis” zu lesen, da mich der Überlebenskampf des Hundes Buck in der Eiswüste Alaskas an mein eigenes Leben erinnerte und tröstete.
Ich habe es geschafft dort meinen Bachlor in Informatik machen und mehrere Jahre in einer Großstadt leben, ohne eine einzige zwischenmenschliche Beziehung zu entwickeln; ich kannte keinen meiner Kommilitonen mit Namen. Allerdings hatte ich zwei Fernbeziehungen.
Die erste war ein Musterbeispiel einer pathologischen Beziehung. Ich lernte sie über ein Selbstmordforum kennen. Sie war der liebste und zärtlichste Mensch, den ich jemals kennenlernte. Wir sprachen zunächst viel mit einander und ich freute mich, über ihr Interesse an mir. Ich war geschmeichelt, dass sie nicht wollte, dass ich ein Gespräch beendete, weil ich schlafen oder zur Uni musste.
Ihre Weigerung nicht mit mir zu reden, war erst bittend, dann fordernd, dann zwingend und flehend. Während des Abends fing es irgendwann an, dass sich ihre Persönlichkeit änderte. Sämtliche Freundlichkeit und Zärtlichkeit wich aus ihr zurück und es blieb nur Hass und Verachtung über.
Unsere Beziehung bestand irgendwann aus dem Ritual tagsüber lieb und nett zueinander zu sein und Nachts mich verachten, beschimpfen, beleidigen und völlig hassen zu lassen. Ich konnte es bald nicht mehr ertragen, aber ertrug es doch. Ich glaube für etwa zwei Jahre. Danach konnte ich nicht mehr.
Die zweite Beziehung war eigentlich keine richtige und lief deshalb relativ gut. Wir sprachen am Anfang viel, bald kaum noch miteinander, aber sie besuchte mich alle paar Monate für einige Tage. Unser Umgang war freundlich und vertraut, aber auch kühl und distanziert. Wir waren beide nicht verliebt ineinander und waren uns dessen völlig bewusst. Wir kamen miteinander aus.
Im Laufe der Jahre divergierten wir jedoch auseinander. Als sie depressiver und ihr Feminismus radikaler wurde, wurde die Kommunikation mit ihr spärlicher und schwieriger. Das Letzte was ich von ihr hörte war, dass sie eine Kontaktpause braucht und ich denke, dabei wird es auch bleiben.
Ich war dysphorisch und resigniert und sah keine Chance darauf, mein Leben jemals in einer Bahn zu bewegen, mit der ich so etwas wie Glück oder Zufriedenheit erfahren würde. Ich machte meinen Master, fand Arbeit und startete den Blog hier.
Dann gab’ es einen Wendepunkt und vieles was ich in den letzten 30 Jahren nicht schaffte, konnte ich in den letzten Monaten nehmen.